Stimmen aus dem Exil (6/10) | „Unser Herz ist in der Ukraine geblieben.“

Nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine und der Ausweitung des Krieges auf das ganze Land floh Marina gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem Hund vor den Bomben. Nach langer, schwieriger Reise kamen sie und andere Geflüchtete in ein Aufnahmezentrum in Vranje, in Südserbien. Die beiden Frauen hoffen, eines Tages nach Hause zurückkehren zu können.

Von Marina (übersetzt von Annika Will)

CdB / Bruno Tolić

Dieser Text ist auch auf Ukrainisch, Französisch und Serbisch verfügbar.


Der Krieg in der Ukraine hat Millionen Menschen ins Exil getrieben. Ukrainer:innen, aber auch Menschen aus Russland und Belarus, die vor dem Moskauer Regime fliehen und in Serbien Zuflucht gefunden haben. Wie blicken sie auf ihre aktuelle Situation ? Wie erleben sie das Exil und ihre vielleicht endgültige Ausreise ? Hier kommen sie zu Wort.

Lassen Sie mich zunächst sagen, dass ich Ukrainerin bin. Das reicht von der Zeit meines Urgroßvaters, der in der Kirche sang, bis hin zu den ukrainischen Liedern, die ich selbst geschrieben habe.

Ich heiße Marina. Ich bin 30 Jahre alt. Ich komme aus Kiew. Ich arbeite als Dozentin an der Universität. Ich unterrichte verschiedene kreative Fächer. Ich schreibe Songs und habe für meine Texte und Kompositionen nationale Musikpreise gewonnen.
In meinem Leben habe ich schon so einiges Unglück erlebt. Aber das schlimmste von allen ereignete sich am 24. Februar 2022.

Um sechs Uhr morgens rief meine Mutter mich an – wir wohnen in unterschiedlichen Stadtteilen von Kiew. Sie rief mich also an und sagte : „Meine Tochter, der Krieg hat begonnen. Ich habe Explosionen gehört. Überall gibt es welche. Wie geht es dir ?“
Diese Frage – „wie geht es dir ?“ – sollte bald zu einem festen Teil meines Lebens, des Lebens meiner Familie, des Lebens meiner Ukraine werden.

Was dann folgte, war das totale Chaos. Ich wohne neben der Universität, dort gibt es ein Studierendenwohnheim. Durchs Fenster sah ich, wie viele Student:innen mit ihren Koffern rannten und in Taxis stiegen.
Nachbar:innen beluden ihre Autos mit Habseligkeiten, die sie mitnehmen wollten. Chaos. Ein bis dahin unbekanntes, starkes, unbeschreibliches Gefühl der Angst machte sich breit.

SMS, Anrufe von Freunden und Bekannten.
„Wie geht es dir ? Nicht weit von uns brennt ein Haus, eine Rakete ist am Morgen eingeschlagen. Wir fahren weg.“
„Wie geht es dir ? Ganz Kiew steht im Stau. Wir kommen seit fünf Stunden nicht voran, wir fahren nach Lwiw.“
„Wie geht es dir ? Wir sind im Keller. Wir tragen Betten und Wasser nach unten. Es gibt viele, die nicht weg können…“
Und ich ?

Egal, wie furchteinflößend ein Albtraum ist – irgendwann wacht man wieder auf. Wenn Krieg ist, nicht.

Wie ging es mir ? Ich wusste es nicht… ich konnte mich selbst nicht spüren. In mir drin fühlte ich Schmerz und Ablehnung. Ich wollte, dass alles nur ein Albtraum ist. Egal, wie furchteinflößend ein Albtraum ist – irgendwann wacht man wieder auf. Wenn Krieg ist, nicht.

Und dann sind Dinge geschehen, an die ich mich mein Leben lang erinnern werde.
In den Nachrichten gab es nur ein Thema : Russland hatte einen Krieg begonnen. Tschernihiw, Charkiw, Saporischschja, Irpin, Butscha, Tscherkassy, Kiew – Explosionen überall. Raketen, die nicht nur auf militärische Ziele abgefeuert wurden, sondern auch auf Wohnhäuser, Schulen, Kindergärten…

Ich weinte, aber nur innerlich. Ich hatte keine Tränen mehr. Unter Zeitdruck habe ich meinen Koffer gepackt : Ein paar Sachen, Dokumente, etwas zu essen.
Auch mein Hund Dschas, ein Jack-Russell-Terrier, schien mich den ganzen Morgen über zu fragen : „Wie geht es dir ?“ …

Gegen Mittag kam eine meiner Studentinnen zu mir. Wir sind seit langem befreundet und arbeiten zusammen an Kunstprojekten.
Sie kam mit gepackten Koffern.
Das Studierendenwohnheim wurde evakuiert. Manche blieben dort im Keller, andere gingen in den Bunker der Universität.
Ihre Familie war in Cherson, ein weiter Weg, es gab keine Fahrkarten.
Wir waren also zu dritt : Vika, Dschas und ich.
Die erste Sirene heulte, wir legten uns auf den Boden.
Rechts von unserem Gebäude befindet sich eine Kaserne der Reservestreitkräfte. Man warnte uns, dass sie zum Ziel von Raketen werden könnte.

Stille...Sirenengeheul…

Dieses Geräusch zerreißt einen von innen. Stellen Sie sich vor, Sie stehen neben einem Lautsprecher und jemand löst den Alarm aus. Es ist nicht einfach nur ein Geräusch, es ist ein Schlag. Ein schwerer Schlag für die Psyche, für unsere Träume, unsere Zukunft.
Als wir aus dem Aufzug kamen, standen ziemlich viele Leute auf dem Parkplatz meines Wohnhauses. Der Hund war nervös. Ich versuchte, ihn, Vika und mich selbst zu beruhigen…

Ich habe eine gute Freundin, ich sollte die Patin ihrer zweiten Tochter werden, die noch kein Jahr alt ist. Sie wohnt im 15. Stock und ich im zweiten. Ich habe sie angerufen. Sie sagte mir, sie sei mit ihren beiden Töchtern und ihrem Mann im Keller unter dem Restaurant im Gebäude gegenüber. Einige Leute durften dort bleiben. Sie bot uns an, dazuzukommen.

Wir verließen also den Parkplatz, es war ruhig. Plötzlich Kampfflugzeuge im Tiefflug. Getöse. Alarm.
Wir sind 200 Meter gerannt, es fühlte sich an wie 2000 Meter.

Auch diese Nacht werde ich nie vergessen. In einem schmalen Gang haben wir zusammen mit den Angestellten des Restaurants Matratzen ausgebreitet. Wir waren 16 Personen. Wenn es ruhig war, lehnten wir uns an die Wände. Wenn die Sirenen heulten, rannten wir in die Tiefgarage. Dort waren viele Leute : Erwachsene, Kinder und Alte mit Habseligkeiten, Matratzen, Decken und...Angst in ihren Augen.

Nachts hatte ich Dienst mit den Männern. Wir hatten Angst, zu schlafen, die Sirenen nicht zu hören, nicht genug Zeit zu haben. Wir haben Essen an alle verteilt. Es gab nicht viel Wasser. Nach einem Unfall am Bahnhof wurde das Wasser im Restaurant abgestellt.
Vika schlief ein wenig, Dschas blieb in unserer Nähe.
Ich ging kurz mit ihm raus und entschuldigte mich bei den patrouillierenden Soldaten dafür, dass wir die Ausgangssperre brachen.

Am nächsten Tag beschlossen wir, nach Hause zu gehen, um Wasser zu holen. Dabei gerieten wir in eine weitere schreckliche Situation. Als wir die Wohnungstür aufmachten, hörten wir Schüsse vor dem Fenster. Wir warfen uns auf den Boden.
In der Chatgruppe unserer Wohnanlage schrieb jemand, ein russischer Scharfschütze ziele vom Dach aus auf die Kaserne nebenan. Unser Militär werde darauf reagieren. Es war also besser, auf dem Boden zu bleiben, da es weitere Schüsse geben konnte.

Dschas, Vika und ich haben uns im Badezimmer versteckt. Still lagen wir auf einer Decke auf dem Boden. Erschöpft von der harten Nacht schliefen wir ein. Geweckt wurden wir von Schüssen hinter der Hauswand, wir hörten jemanden auf der Treppe rennen, die zur gemeinsamen Terrasse führt.

Eine Stunde später schrieb jemand, dass wir gehen können, der Scharfschütze sei neutralisiert. Wir entschieden, Wasser ins Restaurant zu bringen und in den Universitätsbunker zu gehen. Als Dozentin durfte ich dort hinein. Uni-Mitarbeiter:innen und Studierende versteckten sich dort. Sie hatten keinen Ort, wo sie hinkonnten, und konnten ihre Eltern nicht erreichen.

Ich erinnere mich an den Student, der weinte, weil er sein zerbombtes Haus in Tschernihiw in den Nachrichten gesehen hatte und seine Mutter nicht auf seine Anrufe reagierte. Ich erinnere mich, wie ich kurz in meine Wohnung zurückkehrte, um schnell ein warmes Essen zu kochen, das ich an die Studierenden verteilte.
Ich erinnere mich auch, wie ich unter Tränen am Telefon sagte : „Mama, komm zu mir. Lass uns zusammen sein.“

Das erste Gespräch über die Notwendigkeit, zu fliehen, hatten wir am dritten Kriegstag. Als die Menschen in Massen weggingen, schien es mir, als wäre bald alles vorbei, und als würde es bald keinen Grund mehr geben, zu gehen. Man musste abwarten. Ich wünschte, es wäre nur eine Erinnerung an drei harte Tage.

Jetzt schreibe ich diese Zeilen in dem Wissen, dass meine Ukraine seit Monaten leidet. Meine Freunde sterben an der Front. Meine Studentinnen und Studenten verlieren ihre Familien. Mein Leben wird nie wieder so hell sein, wie es einmal war.

Mein bester Freund Andriy hatte ein Auto. Wir haben abgesprochen, dass er sie zu mir bringen würde, sobald ich sie überzeugen könnte, zu fliehen.
In der Zwischenzeit haben mir meine Freunde den Kontakt zu einem Mann aus Mukatschewe vermittelt. Er erklärte sich bereit, uns seine Wohnung kostenlos zur Verfügung zu stellen.

Online konnte man keine Fahrkarten kaufen. Wir wussten nicht, wie es weitergehen würde. Aber da wir jeden Tag Angst hatten und von immer mehr grausamen und ungerechten Handlungen der russischen Armee erfuhren, entschieden wir uns, wegzugehen.

Andriy kam, um meine Mutter mitzunehmen. Ich hatte ihn seit über einer Woche nicht gesehen, unserer schrecklichen Kriegswoche. Wir umarmten uns fest und weinten. Nicht aus Angst vor dem Krieg, sondern aus Angst vor dem Unbekannten. Ich gab ihm alles Essbare aus meiner Gefriertruhe und alle Konserven aus meiner Wohnung mit.
In den Geschäften herrschte Chaos. Wenige Produkte, endlose Warteschlangen, eingeschränkte Öffnungszeiten. Daher war es nötig, sich auch mit Lebensmitteln gegenseitig zu unterstützen.

Meine Mutter hat versucht, ihre Tränen zurückzuhalten. Wir konzentrierten uns auf den Gedanken, dass es nötig war, zu gehen. Andriy hat uns zum Bahnhof gebracht. Er hatte einen Passierschein, mit dem er sich in der Stadt bewegen durfte. Es waren so viele Leute da, dass wir uns Sorgen machten, ob es genug Züge geben würde. Unser Zug sollte um 17 Uhr abfahren. Leider wurde nach und nach durchgesagt, dass alle Züge vor unserem ausfallen. Es kamen immer mehr Leute in den Bahnhof. Der Hund war nervös.

Und dann – das Geräusch einer Explosion. Der Druck war so groß, dass es schien, als sei sie direkt neben uns gewesen. Die Sirene brachte die Leute dazu, Schutz zu suchen. Wir haben das Signal ignoriert, weil wir wussten, dass es danach keinen Platz mehr im Bahnhof geben würde.

Nach der Explosion sah ich durch das Bahnhofsfenster eine große Rauchwolke am Himmel.

Die russische Armee hatte auf den Fernsehturm von Kiew gezielt. Ich bin schon mehrmals dort gewesen und habe mit Filmteams gearbeitet. Ich empfand Schmerzen für alle, die im Moment der Explosion dort gewesen waren, und auch für uns. Meiner Mutter und meiner Freundin habe ich nichts davon gesagt. Sie hatten sowieso schon so viel Angst, ich wollte es nicht noch schlimmer machen.

Endlich wurde der Zug angekündigt. Oder besser gesagt : zwei Züge gleichzeitig. Auf Gleis 2 und Gleis 3. Ein einziger Zugang und mehr als tausend Menschen, die gleichzeitig da runter wollten.
Das waren schreckliche zehn Minuten.

Die Leute trampelten aufeinander herum. Mütter schrien, Kinder weinten, Männer schubsten sich gegenseitig aus der Schlange.

Mitten in der Menge wurde meine Mutter angerempelt. Sie begann, zu fallen. Eine unglaubliche Kraft half mir, sie mit einer Hand wieder hochzuziehen und festzuhalten. Mein Hund Dschas ist in Vikas Armen erstarrt. So hatte ich ihn noch nie gesehen.
Wir hatten keine Zeit zu verlieren. Wir sind den Bahnsteig entlanggerannt, bei jedem Waggon hieß es : „Hier ist kein Platz mehr – lauft weiter.“ Bis zum vorletzten Waggon. Ich sah einen Platz im Türbereich. Der Schaffner hat meinen Blick gesehen, er ließ uns rein. Hinter uns kamen noch andere Leute, aber es gab nicht genug Platz für sie. Die Tür ging zu. Der Zug fuhr los. Gang und Türbereich des Waggons waren voller Menschen. Kein Platz. Wir waren still, wir haben gebetet. Wir dankten Gott, dass wir gehen durften.

Ich bat den Schaffner, uns in sein Zwei-Personen-Abteil zu lassen. Er war einverstanden, uns das obere Bett zu überlassen. Mama ließ sich mit dem Hund dort nieder, Vika setzte sich auf das untere Bett und ich mich auf den Klappstuhl des Schaffners.

Während der Fahrt entschieden wir uns gegen unseren ursprünglichen Plan, in Mukatschewe auszusteigen. Die Schwestern von Vika leben und arbeiten in Serbien, sie boten uns an, zu ihnen zu kommen. Genaueres haben wir erst mal nicht besprochen. Wir waren nur erschöpft und wollten in Sicherheit sein. Statt der geplanten 17 Stunden war der Zug 23 Stunden lang unterwegs. Solotwyno heißt der Ort, an dem wir dann zu Fuß über die Grenze gegangen sind. Zwei Stunden warten an der ukrainischen Grenze, 15 Minuten an der rumänischen Grenze, und wir waren im Auto, das auf uns wartete.

Wir haben nicht über den Krieg gesprochen. Wir haben aus dem Fenster geschaut und geweint.

Wir sind neun Stunden lang durch Rumänien gefahren. Wir schwiegen. Wir haben nicht über den Krieg gesprochen. Wir haben aus dem Fenster geschaut und geweint.
Wir haben uns eine Wohnung für zwei Wochen gemietet. SMS an eine Frau von der ukrainischen Botschaft in Serbien. Kontakt mit dem Konsul. E-Mails.
Die Antwort.
Wir sind wieder losgefahren. Vika, Mama, Dschas und ich.

Die Stadt Vranje. Ein privates Aufnahmezentrum. Die freundliche und sympathische Marija (eine der besten Mitarbeiterinnen des Kommissariatsteams) freut sich, uns unser soba, unser Zimmer zu zeigen.
Wir waren damals 20 Ukrainer:innen. Frauen und Kinder. Gemeinschaftsküche. Gemeinsames Essen. Geteilter Schmerz.

Jetzt sind fast 80 von uns hier. Wir betrachten das Zentrum als unser zweites Zuhause, wir haben Freund:innen und die Unterstützung der Mitarbeitenden des Kommissariats. Wir haben einen temporären Schutzstatus, wir frühstücken und essen zu Mittag, wir haben Wasser und eine Heizung. Aber wir haben keinen Frieden.
Hier im Aufnahmezentrum sind sehr unterschiedliche Menschen. Die meisten sind Frauen und Kinder… aus ihren Geschichten könnte man ein Buch schreiben, ich würde es „Das Buch der Tränen“ nennen.

Manche haben ihr Zuhause verloren, andere ihre Familie… Russland hat ihnen das genommen, was man Leben nennt.
Wir sind alle unterschiedlich, aber wir alle sind Ukrainer:innen ! Jeden Tag machen uns Schuldgefühle zu schaffen. Denn dank des Kommissariats fehlt es uns hier an nichts… während unsere Leute dort, in der Ukraine, leiden…

Das Zentrum ist unser zweites Zuhause, aber ohne das erste sind unsere Herzen leer.
Unser Herz ist zu Hause. In der Ukraine. Da, wo unsere Sprache ist, unser Volk, unsere Eltern und unsere Brüder, unser Leben.
Ukraine, wir kommen bald wieder.

Dieser Artikel wurde mit freundlicher Unterstützung der Schweizer Botschaft in Belgrad und der Heinrich-Böll-Stiftung in Serbien veröffentlicht.