Stimmen aus dem Exil (5/10) | “Ich weiß nicht wie morgen aussieht.“

An dem Tag, als der Krieg ausbrach, wollte die ukrainische Sängerin Bad Sasha nach Serbien reisen, um dort ihr neuestes Album vorzustellen. Hin- und hergerissen zwischen ihrem Drang zu handeln und der Sorge ihrer Familie um ihre Sicherheit fuhr sie schließlich von Kiew nach Belgrad und gab dort mehrere Konzerte für die Ukraine.

Von Bad Sasha (übersetzt von Sarah Hofmeier)

© CdB / Bruno Tolić

Dieser Text ist auch auf Ukrainisch, Serbisch und Französisch verfügbar.


Der Krieg in der Ukraine hat Millionen Menschen ins Exil getrieben. Ukrainer:innen, aber auch Menschen aus Russland und Belarus, die vor dem Moskauer Regime fliehen und in Serbien Zuflucht gefunden haben. Wie blicken sie auf ihre aktuelle Situation ? Wie erleben sie das Exil und ihre vielleicht endgültige Ausreise ? Hier kommen sie zu Wort.

Ich bin Musikern und wurde in Kiew in eine Familie aus Künstlern geboren. In meinem Bekanntenkreis sind sehr viele unterschiedliche Menschen, Kreative, aber auch Leute aus anderen Branchen. Wir alle haben seit 2014 mit einer Invasion der Ukraine durch Russland gerechnet. Es war also keine Überraschung für uns.

Am 24. Februar hätte ich mich eigentlich auf den Weg nach Serbien für die Premiere meines Albums machen sollen. Aus Angst, die russischen Truppen würden von einem Tag auf den anderen in unser Land einfallen, bot man mir an, den Flug vorzuverlegen. Aber das wollte ich nicht, für mich war es wichtig, alles gut vorzubereiten und dazu brauchte ich die Zeit bis zum 24. Februar.

Ich nahm mir eine Minute, um ein bisschen zu schreien.

Am Morgen des 24. wurde nicht von einer Explosion, sondern von meinen Eltern geweckt. Sie sagten mir, der Krieg sei ausgebrochen. Wir waren fassungslos. Nun blieb die Frage : „Was tun ?“ Ich konnte nur an eine Sache denken : Warum sollte ich mich in neue Projekte stürzen, wo doch alles, was ich in den letzten Jahren erreicht hatte, zunichtegemacht werden könnte ? Sie bombardierten den Flughafen, Wohngebiete und Städte nahe Kiew. Mir war klar, dass ich etwas unternehmen musste. Ich nahm mir eine Minute, um ein bisschen zu schreien. Dann dachte ich mir nur : Es ist egal, was mit mir passiert.

Meinen Freunden schrieb ich eine Nachricht : Falls mir etwas passiert, bitte legt mein Album neu auf. Ich rief meine Tante, meinen Cousin und meine Freunde an, um herauszufinden, ob sie vorhatten wegzufahren. Diejenigen mit einem Auto waren schon weg. Ich suchte nach einem Weg Kiew zu verlassen. Weder mein Vater noch mein Bruder wollten gehen. Meine Mutter konnte sich nicht entscheiden. Ich verfolgte die Nachrichten rund um die Uhr. Doch umso mehr ich von dem sah, was passierte, desto größer wurde mein Hass. Ich blockierte die Informationen der raschstischen (russisch+ faschistisch) Sender. Gleichzeitig suchte ich nach einem Zugticket und buchte den nächst möglichen am 26. Februar nach Lwiw.

Die zwei folgenden Tage verbrachte ich im Luftschutzbunker und meiner Wohnung. Ich schlief nicht. Niemand schlief. Es war der Beginn meines 5-Tage-Marathons der Schlaflosigkeit. Denn man konnte es sich einfach nicht erlauben, zu schlafen. Ich packte meinen Koffer, ich nahm alles mit. Ich packte auch einen Rucksack mit dem Material für das Konzert, nur kein Ton-Equipment. Dann wartete ich. Die Stadt war leer. Mehr als die Hälfte meiner Freunde und Bekannten waren bereits weggefahren. Ich hatte keine Angst. Wie gesagt : es war mir egal, ob mich eine Bombe traf.

Ich hätte mir gewünscht, dass meine Familie mich begleitet. Gleichzeitig wollte ich ein Gewehr nehmen und schießen. Ich begann an meinem Plan zu zweifeln und wollte mein Konzert absagen. Doch man überzeugte mich vom Gegenteil,... die Sicherheit, die ganzen Arbeit, die in die Musik geflossen war ... Sehr viele Gedanken schwirrten in meinem Kopf, doch eins war sicher : Ich musste handeln. Ich schrieb meinem Schlagzeugerfreund in Serbien : Kannst du mich an der polnischen Grenze abholen ? Er hatte ein Auto und ich wusste, dass es meine einzige Möglichkeit war. Er fragte, ob ich nach Budapest kommen konnte, es sei so viel näher zu Serbien und die beste Lösung. Ich suchte nach einem Ticket und fand einen Bus von Lwiw nach Budapest.

In Lwiw wartet eine Nacht mit Ausgangssperre auf mich. Mein Zug ging um 5 Uhr morgens, also verbrachte ich die Nacht am Bahnhof. Meine Mutter wollte mit mir kommen, denn niemand wusste, was am nächsten Tag passieren würde. Ich nahm meinen schweren Koffer und meinen Rucksack und verabschiedete mich von meinem Bruder und meinem Vater. Die Straßen waren wie ausgestorben. Das Rattern meines Koffers brach die apokalyptische Stille. Plötzlich hörten wir ein Auto hinter uns. Meine Mutter hob die Hand und der Fahrer hielt an. Er war auf dem Weg zum Bahnhof und nahm uns mit. Er fuhr, so schnell er konnte. Überall lauerte Gefahr. Als wir am Bahnhof ankamen, standen dort ganz schön viele Menschen.

Wir mussten warten. Wir sollten keine ukrainischen Symbole tragen, um nicht zu provozieren und eventuelle Gewalt zu vermeiden. Aber ich brauchte unbedingt eine ukrainische Flagge. Für 200 Hrywen (eine Menge Geld) kaufte ich eine direkt am Bahnhof. Ich hing sie mir wie eine Jacke um die Schultern. In den folgenden Monaten trug ich sie immer bei mir, diese Flagge.

Das erste Mal in meinem Leben schoss man mit einer Kalaschnikow direkt neben mir.

Es gab eine Explosion und schlief nicht. Jede Minute las ich die Nachrichten der Stadt. Es hieß, es sei schwierig, einen Zug zu nehmen, da Panik unter den zahlreichen Geflüchteten ausgebrochen war, denn viele verstanden kein Ukrainisch. Ich beschloss auf den Bahnsteig zu gehen und nachzusehen. Als ich ankam, war alles voller Menschen. Es kam zu einer Auseinandersetzung und das Militär sah sich gezwungen, in die Luft zu schießen. Das erste Mal in meinem Leben schoss man mit einer Kalaschnikow direkt neben mir. Mir war klar, dass ich vom Bahnsteig runter musste.

Schnell ging ich auf den Ausgang zu. Mir gegenüber sah ich sechs bewaffnete Personen des Verteidigungsministeriums. Es war wie im Film, nur dass es eben keiner war. Sie wollten mich kontrollieren. Ich sagte ihnen, ich sei eine Freundin, keine Feindin. Dann wartete ich auf meinen Zug und passte auf meinen Koffer auf.

Um 5 Uhr morgens konnte ich überraschenderweise problemlos in meinen Zug einsteigen. Aufgrund der Ausgangssperre war fast niemand mehr da. Das Einzige, was wir die ganze Zeit über hörten, waren die "Grad"-Raketenwerfersysteme. Wir konnten sie vom Bahnsteig aus sehen. Als ein Granatsplitter über unsere Köpfe hinwegflog, verabschiedete ich mich von meiner Mutter, als wäre es für immer. Alle waren voller Entsetzen.

Auf meine Reise wollte ich auf einmal Umkehren, zurück nach Kiew. Mein Herz brach bei der Vorstellung, dass ich ging, während andere blieben, um mein Land zu verteidigen. Es blieben so viele … Auch ich hätte bleiben sollen. Ich versuchte diese Gedanken wegzuwischen. Ich rief zu Hause an, um zu sagen, dass ich zurückkommen würde. Dann erreichten wir Lwiw. Am Bahnhof waren Hunderte Menschen. Viele Ausländer dachten, unser Zug würde weiter nach Polen fahren, aber Lwiw war die Endstation. Der Zug wurde angehalten. Er durfte weder ein- noch ausfahren. Ein weiteres Mal begann ich die Durchsagen des Militärs vom Ukrainischen ins Englische zu übersetzen, für all diejenigen, die nicht verstanden, was vor sich ging.

Gott sei Dank, durften wir am Ende aussteigen. Dann kam eine zweite Nacht zwischen Luftschutzbunker und Wohnung. Dank Freuden musste ich die Nacht nicht am Bahnhof verbringen. Danke an sie ! Dann traf ich mich mit der Freundin meines Schlagzeugerfreunds und wir fuhren zusammen mit dem Bus nach Budapest. Es war eine einfache Route im Vergleich zu den anderen Strecken. An der polnischen Grenze musste man Tage lang in der Warteschlange stehen. Wir mussten zum Glück nur 10 Stunden warten.

Was hätte ich für mein Land tun können, wenn ich in Kiew geblieben wäre ?

In Budapest traf ich mich mit meinen Musikerfreunden. Ihre Reise hatte mehr als 15 Stunden gedauert. Auf dem Weg nach Serbien war ich an meinem Handy geklebt, um zu verfolgen, was in der Ukraine passierte. Meine Freundin und ehemalige Managerin erwartete mich in Belgrad. Sie nahm mich bei sich auf. Sie war sehr besorgt. Zu allererst gingen wir zur ukrainischen Botschaft und fragten, wie wir helfen konnten. Meine Entscheidung stand schon fest : Ich wollte den gesamten Gewinn meines Konzerts für die Ukraine spenden. Dann begannen wir die Flucht von Frauen und Kindern aus der Ukraine nach Serbien zu organisieren. Wir holten auch die Mutter meiner Freundin nach Serbien.

Den ganzen darauffolgenden Monat verbreitete ich in Serbien, was wirklich in der Ukraine passierte. Denn Serbien hat eine ambivalente Beziehung zur Ukraine und die Menschen hatten alle ein unterschiedliches Bild der Lage. Um mich herum waren alle gegen den Krieg. Nur auf ein paar Mal wurde ich auf der Straße von Leuten blöd angeredet. Das war mir aber egal und ich antwortete ihnen immer. Einmal lud ein Restaurant mich und meine Freunde auf Getränke ein, weil ich meine ukrainische Flagge dabei hatte. Immer wieder traf ich auf wunderbare Menschen aller Altersgruppen in verschiedenen Städten : Belgrad, Nis, Novi Sad. Ich stellte Projekte mit tollen Musikern auf die Beine. Zusammen nahmen wir Live-Versionen meiner Lieder auf. Später fragte mich : Was hätte ich für mein Land tun können, wenn ich in Kiew geblieben wäre ? Ich hatte dort kein Auto, keine U-Bahnhaltestelle in meiner Nähe, mir wäre nichts übrig geblieben, als in einem Bunker zu bleiben.

Vielleicht ist das eine Ausrede, aber ich halte mich an dieser Vorstellung fest. Deshalb war es mir eine große Ehre, den ukrainische Botschafter und seine Frau auf einem meiner Konzerte zu haben und zu hören, dass ich etwas für mein Land getan hatte und vielleicht sogar den Sinn meiner Arbeit im Kontext der internationalen Beziehungen zu erkennen.

Aufgrund des Krieges musste ich von meiner Familie Abschied nehmen. Das war seltsam für mich. Eine solche emotionale Herausforderung holt einen ganz schön auf den Boden und man muss damit leben. Meine nächste Reise ging nach Berlin zu meiner Schwester. Einmal angekommen suchte ich eine Wohnung für meine Mutter und meinen Bruder. Alles war ganz anders dort als in Serbien. Ich war beeindruckt von der unglaublichen Hilfe, die den Ukrainern entgegengebracht wurde. Ich bin all den Menschen sehr dankbar, die meinen ukrainischen Schwestern und Brüdern in Deutschland helfen.

Ich habe ein paar Konzerte in Berlin gegeben und neue Freunde gefunden und sogar Schwiegereltern. Ich habe meinen Freund und Toningenieur in Bamberg getroffen, habe viele tolle Musiker aus Deutschland, Dänemark, Frankreich, Schweden und Großbritannien kennengelernt. In Deutschland war mein Stundenplan nicht so voll wie in Serbien. Doch auch hier wollte ich etwas für mein Land tun. Ich lud junge ukrainische Musiker in Berlin bei meinem Konzert auf die Bühne ein. Das lief super. Ich bin auch den ganzen Klubbesitzern sehr dankbar, die mit mir zusammengearbeitet haben und die der Ukraine helfen. Sie haben auch für mich so vieles getan.

Außerdem bin dankbar, dass ich so viel neue Musik entdecken konnte. Ich konnte Instrumente ausprobieren und an Jam Sessions teilnehmen. Eine außergewöhnliche Erfahrung war ein ukrainischer Kochabend, zu dem ich all meine Freunde einlud – ich kochte zum ersten Mal. In dieser ganzen Zeit sagte ich mir, dass ich keine Lieder über den Krieg schreiben würde. Für mich wäre das, als würde ich dieses Thema ausnutzen. Ich habe immer wieder gesagt, dass der Krieg für mich nichts Romantisches hat : Er ist Horror und Wahnsinn. Ich habe nicht das Recht, Lieder zu veröffentlichen, nur um damit in den Charts zu landen. Das ist zu persönlich. Zwei ukrainische Lieder mag ich allerdings sehr gerne : „Dopomozhe ZSOU” („Die Streitkräfte der Ukraine werden helfen“) und “Wowa, ibach ikh, bliat” („Wowa, fick sie, verdammt“). Echt gut, Jungs ! Die Musik ist wirklich sehr authentisch.

Ich selbst arbeite gerade an meinem zweiten Album. Die Texte erzählen nun doch von den Ereignissen, vom Krieg und dem, was ich erlebt habe und immer noch erlebe. Das durchdringt jetzt unsere gesamte Existenz.

Jetzt wünsche ich den Leuten nur das Recht auf Leben.

Ich habe noch ein paar Reisen vor mir, aber die meiste Zeit verbringe ich jetzt in Deutschland. Meine Mutter, mein Bruder und mein Neffe auch. Mein Vater ist in Kiew, genauso wie meine Tante, mein Onkel und meine anderen Brüder, ihre Frauen und viele meiner Freunde. Ich sage es den Leuten immer wieder : „I don’t know what will be tomorrow“. Und das stimmt. Nicht im negativen Sinne. Ich sehe das eher positiv. Überall stoße ich auf Gutes. Das wird uns allen eine Lehre sein. Ich bin dankbar für alles, was ich bekomme. Ich bin dauernd von wunderbaren Menschen umgeben : Mein Team, meine Freunde, meine Angehörigen, wir sind alle eine große Familie geworden.

Es gab noch nie so eine Einigkeit in unserer Nation, so einen Patriotismus und so viel gegenseitige Hilfe. Heute bin ich stolz auf die Ukraine. Vor dem Krieg hatte ich nur ein One-Way-Ticket in meiner Tasche. Jeder weiß, dass das Leben immer schon schwer war in der Ukraine und gerade deshalb verdient dieses Land nur das Beste, nicht wie andere.

Ich habe immer schon davon geträumt, mit meiner Musik ein Zeichen zu setzten und in der Ukraine ein kostenloses Konzert zu geben für diejenigen, die sich den Eintritt sonst nicht leisten können. Ich weiß wie das ist, wenn man kein Geld hat. Jetzt wünsche ich den Leuten nur das Recht auf Leben … dieses Grundrecht. Dass man sie in Ruhe lässt. Es gibt keine Entschuldigung für diesen Krieg, aber darüber reden wir später. Jetzt muss er einfach nur aufhören.

Dieser Artikel wurde mit freundlicher Unterstützung der Schweizer Botschaft in Belgrad und der Heinrich-Böll-Stiftung in Serbien veröffentlicht.