Stimmen aus dem Exil (4/10) | „Mein Chef hat mich angerufen und mir geraten, das Land zu verlassen“

Swetlana ist Belarussin. 2021, als Tausende Regierungsgegner noch im Gefängnis saßen, hat sie ihr Land verlassen. In Russland hat sie ein Jahr lang gelebt und gearbeitet. Als dann der Krieg begann und es mit der Wirtschaft bergab ging, riet ihr Unternehmen ihr nach Serbien zu gehen. Swetlana ging, ihr Mann blieb allein in Moskau zurück.

Von Swetlana | Übersetzt von Sarah Hofmeier

© CdB / Bruno Tolić

Dieser Text ist auch auf Russisch, Französisch und Serbisch verfügbar.


Der Krieg in der Ukraine hat Millionen Menschen ins Exil getrieben. Ukrainer:innen, aber auch Menschen aus Russland und Belarus, die vor dem Moskauer Regime fliehen und in Serbien Zuflucht gefunden haben. Wie blicken sie auf ihre aktuelle Situation ? Wie erleben sie das Exil und ihre vielleicht endgültige Ausreise ? Hier kommen sie zu Wort.

Am 26. Februar, zwei Tage nachdem Russland die Ukraine angegriffen und den Krieg begonnen hatte, rief mich mein Chef an. Er legte mir höflich nahe, das Land für eine Weile zu verlassen.

Ich sollte mich noch am selben Tag entscheiden, damit er ein Flugticket kaufen und eine Unterkunft reservieren konnte. Er sprach von einer kurzen Geschäftsreise, dennoch sollte ich so viele persönliche Gegenstände wie möglich und alle nötigen Papiere für die Arbeit mitnehmen (Zeugnisse, Geburts-, Heiratsurkunde usw.). Außerdem riet er mir, eine Bankvollmacht für meine Angehörigen zu besorgen, damit sie Geld von meinem russischen Konto abheben oder etwas überweisen konnten. Das alles klang nicht nach einer „kurzen Geschäftsreise“.

Ich hatte also nur ein paar Stunden, um eine Entscheidung zu fällen. Mein Mann arbeitet - genau wie ich noch zu dem Zeitpunkt - Moskau. Für den Kauf unserer Eigentumswohnung haben wir einen Kredit aufgenommen. All das sollte ich aufgeben und in irgendein Land auf einer Liste gehen, die man mir gegeben hatte. Alles, was ich aufgebaut hatte, sollte ich hinter mir lassen, um noch einmal neu anzufangen.

Das Erste, was mir in den Sinn kam, war : „Was, wenn ich Nein sage ?“ Ich musste mich zwischen Familie und Karriere entscheiden. Man hätte mich zwar nicht entlassen, aber jemand anderen auf das Projekt gesetzt, wenn der Kunde nicht mit einer Firma mit Sitz in Russland arbeiten wollte. Ohne Projekt hätte mein Unternehmen mich vermutlich nicht weiter bezahlt. Die Antwort war also kurz und logisch.

Ich begann über meine reellen Perspektiven in Russland nachzudenken. In den Medien hieß es, dass die Zahl der Arbeitslosen aufgrund der Stilllegung Tausender Unternehmen explodierte. Viele Firmen in Russland stellten natürlich auch niemanden mehr ein. Das Risiko, meinen Job zu verlieren, wuchs und die Chancen, einen Neuen zu finden, schwanden. Dazu kam die Inflation. Zwei Wochen nach Kriegsbeginn hat sich der Wechselkurs von Rubel beinah halbiert.
Es gab noch einen weiteren Grund für meine Entscheidung : die Politik der russischen Regierung. Wie viele meiner Freunde habe ich dieses korrupte System satt. Das war zwar nicht ausschlaggebende Grund für meine plötzliche Abreise, aber einer von vielen. Seit 2020 ist das für mich ein schmerzliches Thema. Damals haben die Medien weltweit von den Demonstrationen in meiner Heimat Belarus berichtet. Ich war und bin immer noch sehr besorgt um die vielen politischen Gefangenen, die den Mut hatten, ihre Meinung zu sagen und jetzt leider in Gefängnissen sitzen - unter unmenschlichen Bedingungen. Ich habe Belarus ein Jahr nach Beginn der Demonstrationen verlassen, um nach Russland zu ziehen, wo ich letztendlich auch nicht lange bleiben konnte. Diese beiden Länder haben alles dafür getan, dass die meisten der Andersdenkenden das Exil wählen.

Am 5. März nahm einen frühen Flug und landete in Belgrad. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich so gut wie nichts über Serbien. Nur, dass es neben Touristenzielen wie Bulgarien und Montenegro lag. Bei meiner Ankunft hat mich zu allererst die Sprache überrascht, die der Russischen so ähnlich ist, vor allem die Aussprache. Unser russisches "zdrawstwuite" klingt wie das serbische "zdrawo" und „do swidania" wie "do widjenia". Das hat mich beruhigt. Ich habe mir gesagt, dass ich wohl doch nicht vollkommen verloren sein werde.
Dann begannen die ernsten Angelegenheiten. Ich musste eine Wohnung finden : eine echte Herausforderung. Glücklicherweise hatte ich für die erste Woche ein Hotelzimmer. Doch als ich das Zimmer sah, verging mir die Freude. Am dritten Tag habe ich es gewechselt und damit begonnen, eine Mietwohnung zu suchen. Ich hatte kein Ticket für den Rückflug und habe schnell verstanden, dass ich wohl eine Weile in Serbien bleiben muss. So hat meine lange Suche begonnen. Viele Familien sind zur selben Zeit wie ich aus Russland gekommen - derselbe Weg, dieselben Gründe.

Viele von ihnen waren Informatiker. Sie alle waren auf der Suche nach einer Wohnung für längere Zeit. Natürlich sind aufgrund der großen Nachfrage die Preise explodiert. Trotzdem verkauften sich Wohnungen im Handumdrehen. Selbst wenn man bereit war, das Doppelte zu zahlen : Kaum hatte man die Wohnung besichtigt, war sie auch schon vermietet.

Dann suchte ich über die Website City expert, da sie auf Englisch ist und es leichter war, Informationen zu finden. Ich begann mit den Vermietern zu verhandeln. Pro Tag kontaktierte ich zehn von ihnen, da lag die Obergrenze der Webseite. Innerhalb einer Woche konnte ich nur zwei Wohnungen besichtigen, für alle anderen erhielt ich meist sofort oder nach wenigen Stunden eine Absage. Manchmal telefonierte ich morgens noch mit den Vermietern für eine Besichtigung am selben Tag und eine Stunde später erhielt ich eine SMS von wegen, die Wohnung sei bereits vermietet. Ich musste meinen Hotelaufenthalt um zwei Wochen verlängern. Irgendwann bekam ich Panik, weil ich dachte, ich würde gar nichts finden. Nach etwa zwei Wochen habe ich dann endlich einen Vertrag für ein Jahr unterschrieben, für das Ein-Zimmer-Appartement einer sympathischen, jungen Frau, mitten im Zentrum.

Hier ist alles viel weniger als anonym als in Russland. Nur zum Vergleich : In Moskau leben neunmal mehr Leute als in Belgrad. Moskau ist eine moderne Stadt, aber jeder lebt dort für sich. Niemand nimmt sich dort Zeit. Die Leute wollen nur schnell von der Arbeit nach Hause, um den Rest ihrer Zeit allein oder mit ihren Familien zu verbringen. Das hat logistische Gründe : Viele leben weit entfernt von ihrer Arbeit oder den Universitäten. Die Kollegen meines Mannes zum Beispiel brauchen zwei Stunden bis zu ihrem Arbeitsplatz. Das wäre eine Tragödie für mich, ich habe das Glück, von zu Hause aus arbeiten zu können. In Belgrad ist alles ganz anders. Das Stadtzentrum kann man in ein paar Stunden zu Fuß besichtigen. Die Menschen haben es nicht eilig und unterhalten sich gern.

Anfang März gab es neue Sanktionen für Russland. Ich konnte meine Bankkarten im Ausland nicht mehr benutzen. Am 10. März haben diese Karten plötzlich nicht mehr funktioniert. Das war vorhersehbar und wurde sogar angekündigt. Also konnte ich noch genug Bargeld abheben. Aber das ist wirklich sehr unpraktisch, zum Beispiel um meine Handyrechnung zu bezahlen. Man muss immer sein Guthaben überprüfen, um nicht das monatliche Limit zu überschreiten und im Voraus aufladen. Außerdem sind Bestellungen oder Online-Käufe ohne Karte unmöglich.

Vor Kurzem musste ich einen Flug nach Tivat in Montenegro buchen, um dort das Wochenende zu verbringen. Ich musste zum Schalter gehen und mich anstellen, um die Tickets zu kaufen - daran war ich nicht mehr gewöhnt. Ich hatte das Gefühl, zurück in die 2000-er gereist zu sein. Ich musste nach Montenegro aus dem einfachen Grund, dass bestimmte Ausländer in Serbien nicht länger als 30 Tage (oder 90 Tage) ohne Visum bleiben können. Ich musste also das Land verlassen. Die Serben sprechen vom „Visa run“. Sehr viele Ausländer sind in der gleichen Situation. Sie fahren über die Grenze, machen kehrt und kommen wieder. Nur wer für eine serbische Firma arbeitet, ist von dieser Regel der 30 oder 90 Tage ausgenommen. Diese Personen können also im Land bleiben, solange ihr Visum gilt. Da ich aber keine Zeit hatte, um mir ein Visum zu besorgen, werde ich das nächste Wochenende in Montenegro verbringen.

Dieser Artikel wurde mit freundlicher Unterstützung der Schweizer Botschaft in Belgrad und der Heinrich-Böll-Stiftung in Serbien veröffentlicht.