Stimmen aus dem Exil (1/10) | „In meiner Welt steht das Wort Katastrophe genau für das, was passiert ist“

Die Russin Eva Petrova (pseudonym) lebt seit Jahren in Serbien. Als sie von der russischen Invasion in der Ukraine erfuhr, war sie tief erschüttert und fühlte sich ohnmächtig. Dann wurde sie aktiv, um den Geflüchteten zu helfen.

Von Eva Petrova (übersetzt von Annika Will)

Dieser Text ist auch auf Russisch, Französisch und Serbisch verfügbar.

© CdB / Bruno Tolić

Der Krieg in der Ukraine hat Millionen Menschen ins Exil getrieben. Ukrainer:innen, aber auch Menschen aus Russland und Belarus, die vor dem Moskauer Regime fliehen und in Serbien Zuflucht gefunden haben. Wie blicken sie auf ihre aktuelle Situation ? Wie erleben sie das Exil und ihre vielleicht endgültige Ausreise ? Hier kommen sie zu Wort.

Als Russin in Serbien zu sein, ist angenehm. Ich lebe hier seit mehr als zehn Jahren, also weiß ich, wovon ich spreche. Für Neuankömmlinge ist es vielleicht sogar noch offensichtlicher. Ohne bestimmten Grund fühlt man sich willkommen. Ein bisschen so, als träfe man entfernte Verwandte, von deren Existenz man zwar wusste, an die man aber nicht oft gedacht hat.

Wie ist es für Ukrainer:innen in Serbien ? Da bin ich mir nicht sicher. Es muss frustrierend sein, ständig für einen Russen oder eine Russin gehalten zu werden. Vor Jahren habe ich erlebt, wie ein ukrainischer Freund, der in Belgrad lebte, immer wieder gefragt wurde „Bist du denn nun aus der Ukraine oder aus Russland ?“, oft mit dem Nachsatz „ist das nicht eh dasselbe ?“

Wenn es in der serbischen Durchschnittsbevölkerung an Geographiekenntnissen mangelte, dann war ihnen die jüngste Geschichte definitiv eine Lehre. Was 2014 auf der Krim geschah, hat eine Kluft zwischen Menschen russischer und ukrainischer Herkunft geschaffen, die immer tiefer wurde, bis es zur Katastrophe des 24. Februar 2022 kam.

In meiner Welt steht das Wort Katastrophe genau für das, was passiert ist. Wo soll ich anfangen, das zu erklären ?

Ich glaube nicht wirklich an das Narrativ der „Brudervölker“, das offizielle Vertreter Russlands so gern benutzen, aber wenn es um die Ukraine geht, nehme ich es sehr persönlich. Meine Großmutter war Halbukrainerin, und natürlich bin ich kein Einzelfall. Viele Menschen in Russland, besonders im Westen des Landes, haben persönliche Verbindungen in die Ukraine : Familie, Kolleg:innen oder Freunde. Ganz ähnlich wie in Serbien, wo die Leute immer noch Verwandte in anderen ex-jugoslawischen Ländern haben.

Unsere Kinder sind es, die – im übertragenen und im eigentlichen Sinne – bezahlen werden für den Krieg, den zu verhindern wir nicht imstande waren.

Zweitens sind die Russinnen und Russen stolz darauf, den größten Krieg des 20. Jahrhunderts beendet zu haben. Diese große Erzählung zeichnet ein Bild von uns als einer Nation, die riesige Opfer gebracht hat, um ihr Land gegen äußere Aggressoren zu verteidigen. Leider sehen wir heute, wie die Regierung Putin diese Erzählung ausnutzt, um genau das Gegenteil zu tun, nämlich den Angriff auf ein Nachbarland zu rechtfertigen. Das zu sehen, ist schmerzhaft. Und das Stigma wird bleiben. Unsere Kinder sind es, die – im übertragenen und im eigentlichen Sinne – bezahlen werden für den Krieg, den zu verhindern wir nicht imstande waren.

Meine Kinder sind in Serbien geboren und ich hatte gehofft, dass sie das beste aus beiden Welten haben würden, dass sie nach Russland reisen und dort die Kultur ihrer zweiten Heimat kennen und lieben lernen. Nach diesem Krieg und den antirussischen Reaktionen, die er gebracht hat (von einigen Ländern, die zuvor erteilte Visa für russische Staatsbürger zurückzogen bis hin zu der umstrittenen Entscheidung des Meta-Konzerns, Hassrede gegenüber Russinnen und Russen zuzulassen und der ganzen Cancel Culture) – wie könnten sie da noch stolz auf diesen Teil ihrer Identität sein ?

Die Bilder der zerstörten ukrainischen Städte spiegeln wider, wie ich mich fühle. Zertrümmert. Teile meiner Identität, Erinnerungen, Hoffnungen und Sehnsüchte haben sich in einen Haufen Trümmer verwandelt. Ich trauere um die Zukunftsträume, die ich für meine Familie hatte.

Doch während der Krieg weitergeht und so viele Menschen ihr Leben und ihr Zuhause verlieren, scheint es mir unangebracht, solche Gefühle zu äußern. So geht es vielen Leuten, die ich kenne. Und sie werden aktiv, indem sie helfen, so gut sie können.

In den Wochen, die auf die Invasion folgten, habe ich wunderbar selbstlose Bemühungen sowohl von Serbinnen und Serben als auch aus der hiesigen russischsprachigen Community erlebt. Viele sind dem Aufruf der ukrainischen Botschaft in Belgrad gefolgt, Dinge wie Kleidung, Decken und batteriebetriebene Lampen für die Geflüchteten zu spenden. Zwei russisch-serbische Familien, die ich kenne, brachten mit ihren Autos humanitäre Hilfsgüter an die ukrainische Grenze. Man sollte nicht vergessen, dass russischen Staatsbürger:innen seit den jüngst erlassenen Gesetzen für solche Aktivitäten Geldbußen oder sogar Gefängnisstrafen drohen. Das Risiko dafür ist in Serbien natürlich nicht sehr groß, aber wer seine Meinung und seine Hilfsaktivitäten in sozialen Netzwerken veröffentlicht, muss sich die Frage stellen, ob er oder sie dann noch nach Russland reisen kann.

Zwei privat geführte Hotels haben Geflüchtete aufgenommen, ohne dafür Geld zu fordern. Cider&Squash, ein von einem russischen Ehepaar geführtes Hotel in Zentralserbien, nimmt Ukrainer:innen auf, die Serbien meist auf dem Weg von Rumänien nach Bulgarien durchqueren, und ermöglichen ihnen einen Moment dringend benötigter Ruhe und ein Gefühl von Normalität. Am Eingang des Hotels hängt die ukrainische Flagge. Mitinhaberin Vera Tarasova postet die Geschichten ihrer Gäste auf Facebook und zeigt die menschliche Dimension dieser Tragödie.

In einer anderen Unterkunft, der Mountain Lodge Tarweek im Tara-Gebirge, die Milan Miletić gehört, einem Serben, der mehr als ein Jahrzehnt in Moskau verbrachte, bevor er in sein Heimatland zurückkehrte, sind Menschen aus der Ukraine und Russland gleichermaßen willkommen. Milan schaffte es, seinen in Russland geborenen Sohn nach Serbien zu holen, nachdem die meisten Flüge gestrichen worden waren, und er beschloss, sein Haus für alle Russinnen und Russen zu öffnen, die sich entschlossen haben, den Härten der internationalen Isolation und dem Druck des Regimes zu entfliehen.

Und es gibt auch Menschen, ziemlich viele sogar, die Russland ohne erkennbaren Grund verlassen, getrieben von Angst oder Abscheu, oder beidem.

Während der ersten Kriegstage war ich von Wut- und Ohnmachtsgefühlen überwältigt. Dann begann ich, darüber nachzudenken, was ich konkret tun kann. Ich packte zwei Kisten mit Kleidung und brachte sie zur ukrainischen Botschaft. Ich fühlte mich ein wenig besser. Dann sah ich einen Aufruf, einer Telegram-Gruppe für Übersetzer:innen beizutreten, wo Freiwillige ukrainischen Geflüchteten kostenlos mit der Sprache helfen. Da ich drei Sprachen fließend beherrsche, bin ich zwei solcher Gruppen beigetreten, einer internationalen und einer für die Balkanregion.

In den folgenden Wochen war ich überrascht, zu sehen, dass in Serbien vor allem Menschen aus Russland Rat und Hilfe mit der Sprache suchten. Aber vielleicht ist es gar nicht so überraschend. Serbien grenzt nicht an die Ukraine. Es ist nicht in der EU und auch nicht reich – all das macht es zu einem Land, das Geflüchtete nur selten als Endstation wählen. Am 26. März hatten sich laut serbischen Medien nur 3500 Ukrainer:innen in Serbien registrieren lassen, und selbst, wenn sich diese Zahl seither verdoppelt haben sollte, sind das immer noch nicht viele.

Andererseits ist Serbien eines der Hauptzielländer für Russinnen und Russen, die nach dem 24. Februar beschlossen haben, ihr Land zu verlassen. Wovor laufen sie weg ? Manche fliehen vor politischer Verfolgung wegen ihrer Teilnahme an Antikriegsprotesten. Andere haben Angst, vom Militär eingezogen zu werden. Wieder andere wollen durch eine Umsiedlung ihr Unternehmen retten. Und es gibt auch Menschen, ziemlich viele sogar, die Russland ohne erkennbaren Grund verlassen, getrieben von Angst oder Abscheu, oder beidem. Sie erinnern sich, dass ihre Eltern oder Großeltern im Gefängnis oder im Exil waren, wie die berühmte Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja (die derzeit in Berlin ist) kürzlich in einem Interview sagte. Kein leicht zu tragendes Erbe. Es weckt verdrängte Ängste zu neuem Leben : die Angst vor einer Wiederherstellung des Eisernen Vorhangs, vor den berüchtigten „Säuberungen“, oder die Sorge, die Armut der 90er Jahre noch einmal durchleben zu müssen. Wo Unsicherheit ist, ist immer auch Raum für Ängste und Massenhysterie.

Vor hundert Jahren strömten massenweise russische Flüchtlinge nach Europa, die nach der russischen Revolution den Schrecken des Bürgerkriegs entkommen wollten.

Kurz nachdem die Sanktionen gegen Russland verhängt wurden, half ich einer Freundin – der unpolistischsten Person, die ich kenne – für sie und ihre Familie Flugtickets nach Serbien zu kaufen. Da russische Bankkarten im Ausland blockiert sind und Air Serbia die einzige Airline ist, die noch Flüge anbietet, war es eine ziemliche Herausforderung. „Aber wovor solltest du denn Angst haben ?“, fragte ich sie. „Ich liebe es, in Russland zu leben und will hier nicht weg“, sagte sie, „aber ich will einfach einen Plan B haben. Ich hatte Albträume von einem Atomkrieg. Flugtickets zu haben, wird mir helfen, mit der Angst fertig zu werden.“

Augenzeugen zufolge ist der Flughafen Moskau-Scheremetjewo derzeit voll mit solchen Leuten : Familien mit Kindern, manchmal die Haustiere im Gepäck, mit einem Koffer pro Person, die ihr Zuhause und ihr bisheriges Leben zurücklassen. Obwohl Auslandsreisen nicht offiziell verboten sind, werden diejenigen, die das Land verlassen, üblicherweise gefragt, was der Zweck ihrer Reise ist, und ob sie Rückflugtickets haben. Bei manchen werden die Handys durchsucht. Einem kürzlich beschlossenen Dekret der russischen Regierung zufolge dürfen Ausreisende höchstens 10.000 US-Dollar pro Person mitführen (Minderjährige ausgenommen). Ihre Bankkarten funktionieren im Ausland nicht, sie dürfen aber noch einmal 10.000 US-Dollar auf ausländische Konten überweisen. Ein eher bescheidener Neuanfang.

Vor hundert Jahren strömten massenweise russische Flüchtlinge nach Europa, die nach der russischen Revolution den Schrecken des Bürgerkriegs entkommen wollten. Nach Serbien verschlug es diejenigen, die sich von der vertrauten slawisch-orthodoxen Kultur angezogen fühlten oder zu arm waren, woanders hinzugehen – wobei die zweite Gruppe viel größer war. Das ist heute ähnlich. Es gibt derzeit nur zwei große Luftkorridore von Russland nach Europa, über Belgrad und Istanbul. Viele, die kein Schengenvisum oder kein Geld haben und keine Fremdsprachen sprechen, entscheiden sich, zumindest eine Zeitlang in Serbien zu bleiben. Sowohl serbische als auch russische Mainstreammedien haben in letzter Zeit Artikel über diese neuen Einwanderer:innen veröffentlicht. Es wird auch geschätzt, dass Russinnen und Russen seit Beginn der Invasion über 300 Unternehmen in Serbien gegründet haben.

Wenn sie sich an einem Ort niedergelassen haben, beginnen die Neuankömmlinge, ihr Leben neu aufzubauen. Keine einfache Aufgabe. Sie sind mit einer unbekannten Umgebung konfrontiert, einer fremden Sprache, deren Ähnlichkeit zum Russischen oft in die Irre führt – sie brauchen dringend Hilfe. Vor allem Informationen : Wie eröffnet man ein Bankkonto ? Kann man sein Kind in einer serbischen Schule anmelden ? Wo bekommt man im Notfall ärztliche Hilfe ?

Ist es angenehm, als Russe oder Russin in Serbien zu sein. Ironischerweise manchmal sogar zu angenehm. Wenn sie jemanden russisch sprechen hören, grüßen viele Serbinnen und Serben die Neuankömmlinge mit „Wir lieben Wladimir Putin !“ – also genau den Mann, der sie dazu gebracht hat, ihr Land zu verlassen.

Zum Glück gibt es Menschen, denen man diese Fragen stellen kann. Als ich vor mehr als zehn Jahren zum Studieren nach Serbien kam, gab es keine russischsprachige Community. Heute ist das anders. Zwar gibt es keine Statistiken, doch die Daten der russischen Botschaft in Belgrad zeigen genauso wie die Mitgliederzahlen entsprechender Gruppen in den sozialen Netzwerken, dass in Serbien mehrere tausend Russinnen und Russen leben. Es gibt Gruppen auf Facebook genauso wie im russischen Social Media-Netzwerk Vkontakte, ein Dutzend Instagram-Seiten und mehr und mehr Telegram-Kanäle, die sich auf Russisch den unterschiedlichsten Aspekten des Lebens in Serbien widmen. Auf all diesen Plattformen werden Neuankömmlinge entweder kostenlos oder gegen Gebühr beraten – zu Themen wie Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, der Gründung eines Unternehmens oder der Frage, warum zum Teufel in diesem Land alles so lange dauert. Als aktives Mitglied dieser Community mit einem breiten persönlichen und beruflichen Erfahrungsschatz in Serbien verbringe ich im Schnitt eine Stunde pro Tag damit, solche Fragen zu beantworten und Beiträge zu verfassen.

Auch, wenn es eine Weile dauert, sich daran zu gewöhnen, wie die Dinge hier laufen, und die serbischen Gepflogenheiten Lichtjahre von der Moskauer Managerkultur entfernt sind – trotzdem ist es angenehm, als Russe oder Russin in Serbien zu sein. Ironischerweise manchmal sogar zu angenehm. Wenn sie jemanden russisch sprechen hören, grüßen viele Serbinnen und Serben die Neuankömmlinge mit „Wir lieben Wladimir Putin !“ – also genau den Mann, der sie dazu gebracht hat, ihr Land zu verlassen. Die Beliebtheit des russischen Präsidenten ist in Serbien durch den Krieg in der Ukraine kein Stück kleiner geworden, wie prorussische Demonstrationen in Belgrad jüngst wieder gezeigt haben.

Man kann sich nur wundern, wie es möglich ist, dass eine Nation, die 1999 heftig von der NATO bombardiert wurde, wobei die Wirtschaft ruiniert und tausende Zivilist:innen getötet wurden, eine solche Sympathie für die russische Invasion in der Ukraine hat. Die traurige Antwort ist, dass es wohl genau das Trauma dieses Krieges ist, das dazu beiträgt, dass Serbinnen und Serben die russischen Truppen unterstützen. In ihren Augen zielt die Invasion mehr auf die NATO und den Westen insgesamt als auf die Menschen in der Ukraine. Sie sehen sie als ihre lang herbeigewünschte Revanche, ausgeführt von einer sehr viel stärkeren Militärmacht.

Wenn man aus den Erfahrungen Ex-Jugoslawiens irgendetwas lernen kann, dann das : Es braucht mindestens eine Generation, bis die alten Wunden vernarben. Und selbst dann heilen sie nicht. Es braucht nicht viel, um alte, ungelöste Konflikte wieder anzufachen. Ich fürchte, genau das steht uns bevor. Mit uns meine ich die Menschen in der Ukraine, in Russland und in ganz Europa. Das ist eine düstere Perspektive. Und doch hoffe ich, dass Russland eines Tages zu seinen Taten steht und der Ukraine Kriegsreparationen zahlt. Ich hoffe, dass auch die Ukraine zu einer Versöhnung bereit sein wird, und die Beziehung wiederbelebt werden kann. Im Moment ist erst einmal das Wichtigste, dass dieser Krieg beendet wird.

Dieser Artikel wurde mit freundlicher Unterstützung der Schweizer Botschaft in Belgrad und der Heinrich-Böll-Stiftung in Serbien veröffentlicht.