Stimmen aus dem Exil (2/10) | „Wer an seiner Freiheit hängt, kann nicht mehr in Russland bleiben“

Stanislaw (Name wurde geändert) war nie ein Anhänger von Wladimir Putins Regime. Einen Tag nach Kriegsbeginn hat er Moskau zusammen mit seiner Familie verlassen. In Serbien, wo für ihn ein neues Leben begonnen hat, macht er sich Gedanken über die Zukunft seiner alten Heimat.

Von Stanislaw T. (übersetzt von Sarah Hofmeier)

CdB / Bruno Tolić

Dieser Text ist auch auf Russisch, Französisch und Serbisch verfügbar.


Der Krieg in der Ukraine hat Millionen Menschen ins Exil getrieben. Ukrainer:innen, aber auch Menschen aus Russland und Belarus, die vor dem Moskauer Regime fliehen und in Serbien Zuflucht gefunden haben. Wie blicken sie auf ihre aktuelle Situation ? Wie erleben sie das Exil und ihre vielleicht endgültige Ausreise ? Hier kommen sie zu Wort.

Meine Geschichte beginnt am 23. Februar 2022 in Moskau. In Russland ist das der Tag des „Verteidigers des Vaterlandes“, ein Feiertag aus Zeiten der Sowjetunion zu Ehren der Soldaten der Armee. Ich habe also frei. Meine Familie und ich beschließen, auf dem Hügel Worobjowy Gory, dem höchsten Punkt im Süd-Osten der Hauptstadt, spazieren zu gehen. Es ist noch Winter. Wenn Schnee fällt, verbergen die Flocken den Blick auf den Fluss Moskwa und das Umland, aber sobald es aufhört zu schneien und die Sonne herauskommt, kann man den Frühling schon spüren. Von Worobjowy Gory aus hat man einen schönen Ausblick auf Moskau, auf die sonnenbeschienen Dächer des Klosters Nowodewitschi und in der Ferne die Christ-Erlöser-Kathedrale, hinter der sich die Türme des Kremls erahnen lassen. Wer hätte gedacht, dass ich sie an diesem Tag zum letzten Mal sehen würde ...?!

Wir beschließen, den Fluss Moskwa vom Hügel aus mit der Seilbahn zu überqueren, um zum Luzhniki-Stadion zu gelangen. An diesem Tag ist es nur bis 15 Uhr geöffnet. Danach beginnen die Vorbereitungen für das Feuerwerk. Zeit genug für einen kleinen Spaziergang. Als wir aus der Seilbahn in Luzhniki aussteigen, ist bereits alles voller Militär-Lastwägen und Menschen in Uniform. Die Behörden riegeln den Umkreis ab, in dem am Abend das Feuerwerk gezündet wird. Ihr hektisches Treiben erweckt in mir ein schmerzliches und beängstigendes Gefühl : als würde die Kriegsmaschinerie in meinen Alltag eindringen ...

Es ist schön, ein Kind zu sein : Meine eigenen bekommen nichts mit von den Entwicklungen und Zeichen der Zeit. Alles, was um sie herum geschieht, ist für sie selbstverständlich. Alles, was ihnen auffällt ist, der nahende Frühling. Jeder neue Tag ist ein Grund zur Freude. Wir machen eine Schneeballschlacht auf dem Spielplatz. Die Letzte in Moskau. Die Nächste wird es erst in Belgrad geben.

Um drei Uhr morgens ergebe ich mich der Müdigkeit. Eine Stunde später, am 24. Februar 2022, bricht der Krieg aus.

Am Abend beginnt das Feuerwerk. Die Kinder sind glücklich. Sie sehen auf beiden Seiten der Wohnung aus dem Fenster. Für sie ist das pure Schönheit, die Symbolik bleibt ihnen verborgen. Ich bin gemischter Gefühle. Objektiv gesehen ist es natürlich schön : Strahlende Lichterblumen erblühen auf dem tiefschwarzen Himmel. Doch wofür stehen sie ? Der Kult um Waffen und Stärke, imperiale Macht : Alles, was ich seit Jahren verabscheue, überwältigt mich in diesem Moment. Die Kinder gehen glücklich ins Bett und ich ? Ich bin voller Angst.

Die erste Hälfte der Nacht kann ich nicht einschlafen. Ich lese wahllos Nachrichten im Internet und unterhalte mich mit Freunden, die auch noch wach sind. Um drei Uhr morgens ergebe ich mich der Müdigkeit. Eine Stunde später, am 24. Februar 2022, bricht der Krieg aus.

Die Entscheidung fällen wir gleich beim Aufwachen : Meine Frau und meine Kinder sollen sofort nach Belgrad gehen. Ich kaufe ihnen Tickets für den Tag darauf. Ein serbischer Freund, den wir seit acht Jahren kennen, nimmt sie in seinem Hotel auf. Ich selbst schaffe es eine Woche später, unser Haus zu verkaufen und Russland zu verlassen.

Unsere Abreise mag überstürzt scheinen, dennoch hatten wir uns darauf seit Langem vorbereitet. Ich kann nicht sagen, dass ich mein ganzes Leben lang Oppositioneller war. Nein, als Orthodoxer war ich in meine Jugend den Behörden gegenüber eher loyal oder besser gesagt unpolitisch. Im Laufe der Zeit hat sich meine Meinung entwickelt. Ich geriet mit mir selbst in Konflikt und mit der Zeit wurde dieser immer größer. Meine russische Identität stand im Widerspruch zu meinem christlichen Glauben. Ich erkannte mich selbst nicht wieder.

Die einzige offene Frage blieb : Wohin ? Ich habe lange gebraucht, um eine Antwort zu finden.

2018 wollte ich unbedingt gegen Wladimir Putin stimmen. Mein Kandidat schaffte es auf ungefähr 10 %. Da habe ich verstanden, dass das System sich nicht auf demokratische Weise ändern lässt, da das Regime beinah die einstimmige Unterstützung des Volkes hat. Ich habe auch gegen die Verfassungsänderungen 2020 gestimmt und gegen die Regierungspartei bei den Parlamentswahlen 2021. Jedes Mal gehörte ich zur zerschlagenen Minderheit. Bei den Parlamentswahlen war der Wahlbetrug bei der Auszählung der „elektronischen Stimmen“ eklatant. Denn der Kandidat der Opposition in unserer Region hätte gewinnen müssen. Ich dachte mir : „Ein Fremder im eigenen Land zu sein, ist schlimmer als Schwierigkeiten bei der Integration in eine neue Gesellschaft zu haben.“ An der Auswanderung führte kein Weg mehr vorbei.

Die einzige offene Frage blieb : Wohin ? Ich habe lange gebraucht, um eine Antwort zu finden. Ich habe unterschiedliche Optionen ins Auge gefasst : Kanada, die USA, Portugal und Frankreich, auch an Serbien habe ich gedacht. Aber ich wusste, dass das Land nicht reich ist und dass es schwierig würde, Arbeit zu finden. Trotzdem habe ich mich zuletzt dafür entschieden, da ich die Sprache gut genug spreche, um durch den Alltag zu kommen.

Im Januar 2022 stellte ich unsere Wohnung in Moskau zum Verkauf und Mitte Februar hatte ich zwei potenzielle Käufer. Ich hatte bereits zuvor versucht zu verkaufen, im Mai 2021. Ich habe es sehr bereute, dass ich mich von meinem Vater davon abbringen habe lassen.

Der Preis in Rubel stieg in sechs Monaten um 10 %. Letztendlich verlor ich 15 % aufgrund der Inflation. Ich hätte noch sehr viel mehr verloren, bis zu 40 %, wenn ich mich mit dem Käufer nicht auf Barzahlung geeinigt hätte. Am Tag nach dem Verkauf der Wohnung machte die Börse in Moskau dicht und das gesamte Geld verschwand aus den Umschlagplätzen. Ich hatte wirklich Glück : Ich hatte sehr schnell reagiert und so weniger Geld verloren.

Ich mache mich auf den Weg zum Flughafen im Gepäck nur die wichtigsten Papiere und 10 000 US-Dollar - die maximale Summe, die man nicht verzollen muss. Ich buche einen Flug nach Dubai (es gibt keine Direktverbindung nach Belgrad an diesem Tag) und verlasse Russland. Einmal durch die Grenzkontrolle bin ich beinah euphorisch. Der Plan, den ich seit Langem hatte, wird endlich Wirklichkeit. Zwei Tage in Dubai helfen mir, mich wieder zu fassen. In meiner letzten Woche in Russland habe ich kaum gegessen und geschlafen, ich stand unter Adrenalin.

Zwei Tage später landet mein Flugzeug in Serbien am Flughafen Nikola Tesla. Ich miete ein Auto für ein paar Tage. Noch funktionieren meine russischen Bankkarten. Auch nach zehn Jahren Pause komme ich noch mit manueller Schaltung und einem „überflüssigen“ Pedal zurecht. Aus einem unbekannten Grund fährt man in Serbien lieber so Auto. Ich fahre durch die Stadt ohne Handy oder Navigationssystem, ohne zu wissen, wo mein Hotel ist. Auf dem Weg höre ich im serbischen Radio erschreckende russische Propaganda. „Bin ich im richtigen Land ?“ Die Frage bahnt sich ihren Weg in mein Unterbewusstsein. Eine Woche später höre ich diese Sendung nicht mehr im Radio. Die serbischen Medien haben aufgehört, die Stimmen des Kremls zu sein.

Eine Bank nach der anderen lehnt mich ab, weil ich Russe bin.

In einem Hotel im Zentrum von Belgrad empfangen mich meine Frau und Kinder voller Freude. Sie haben mir so sehr gefehlt. Das Hotel ist alt, hat aber einen guten Ruf. Es scheint in der Zeit stehen geblieben zu sein : Außen, die selbe alte Fassade und im altmodischen Inneren, der beißende Geruch von Tabak. Es ist nicht das einzige dieser Art, viele Hotels in Serbien sind von diesem Geruch durchtränkt. Einer der großen Unterschiede zu Russland, an den wir uns noch gewöhnen müssen.

Bei unserer Ankunft ist auch in Belgrad noch Winter. Es schneit und es weht ein eiskalter Wind. Die Kinder erkälten sich. In den Gebäuden wird viel weniger geheizt und die Menschen kleiden sich weniger warm. Sie sind daran gewöhnt. Wir nicht. Wir werden krank. Wenn Sie in den Straßen von Belgrad jemanden mit dickem Mantel und warmer Mütze sehen, dann ist diese Person sehr wahrscheinlich Russisch.

Im ersten Monat suchen wir nach einem AirBnB ohne zu wissen, was uns erwartet. Wir finden eine Wohnung in einem kleinen einstöckigen Haus in Zwezdara, am Stadtrand von Belgrad. Was uns an der Anzeige reizt, ist die Stille, die ruhige Lage und die Nähe zur Natur. Gleich hinter unserer Straße beginnt der Wald.

Das Haus liegt an einem steilen Hang, doch wir gewöhnen uns schnell an die körperliche Anstrengung. Man braucht zwanzig Minuten ins Stadtzentrum mit dem Bus. Das ist fast nichts im Vergleich zu dem, was wir aus Moskau kennen. Doch im Haus ist es kalt, die Heizung elektrisch, der Boden wie in einer steinernen Grotte. Wir sind daran nicht gewöhnt, denn wir kommen aus einem Land, in dem das Heizen mit Gas so gut wie umsonst ist. Unsere Gastgeberin versichert uns, dass diese Steinböden hier normal sind und dass sie immer ihre Schuhe anbehält. Wir kommen zu dem Schluss, dass wir so nicht lange leben können und machen uns auf die Suche nach einer Wohnung in einem mehrstöckigen Gebäude, das dem ähnlicher ist, was wir aus Moskau kennen.

Am nächsten Tag beginnt für mich ein dreitägiger Marathon in den Belgrader Banken. Ich versuche ein Konto zu eröffnen. Aber eine Bank nach der anderen lehnt mich ab, weil ich Russe bin. Dabei weiß ich, dass Russen vor nicht allzu langer Zeit sehr leicht ein Konto in Serbien eröffnen konnten ! Die Finanzinstitute haben ihre Politik geändert. Ich unterliege den ersten Folgen der Reaktionen auf den Angriffskrieg Russlands. Am Ende lässt mich nur eine einzige Bank ein Konto eröffnen.

Mein Hauptproblem ist, dass ich nicht an das Geld von meinem Wohnungsverkauf in Moskau komme. Es ist fast unmöglich, Geld aus Russland in eine Fremdwährung zu überweisen. Die Obergrenze liegt bei 5.000 US-Dollar pro Monat über einen Verwandten. Bis zum 10. März renne ich von einem Geldautomaten zum anderen und hebe Geld mit all meinen russischen Bankkarten ab. Wobei ich jedes Mal einen ziemlich hohen Verlust durch den Wechselkurs und die Bankgebühren erleide. Seit dem 10. März sind russische Bankkarten zu nutzlosen Sammlerobjekten geworden.

Trotz aller Schwierigkeiten bleibe ich optimistisch. Die Zukunft kann nur besser werden. Ich habe Russland verlassen, ich habe das Projekt verwirklicht, das ich so lange geplant habe. Hätte es den Krieg nicht gegeben, wäre ich im Mai nach Serbien gekommen. Aber es ist nun einmal anders gekommen. Viele Menschen haben ein viel härteres Leben als ich, sowohl in der Ukraine als auch in Russland. Ich bin im Exil, in einem Land, in dem Russen gut behandelt werden, in einer Bevölkerung, deren Sprache ich bereits kann und deren Kultur meiner nahe ist. All das wird meiner Familie helfen, sich schnell zu integrieren.

Ich habe eine große Familie. Neben meiner Frau und meinen Kindern habe ich auch meine Haustiere mit nach Serbien gebracht. Ich konnte sie nicht mit ins Flugzeug nehmen, aber am letzten Tag in Moskau habe ich sie einer damals noch aktiven russisch-serbischen Transportfirma anvertraut und sie in Belgrad wieder abgeholt.

Jetzt sind wir alle vereint. Das ist am wichtigsten. Nach und nach werde ich mich den Schwierigkeiten stellen können, aber auch anderen Menschen helfen, die Russland und die Ukraine verlassen haben, da ich gut Serbisch spreche. Ich bin mir sicher, dass wir gemeinsam oder jeder für sich ein neues Leben aufbauen können, in einem neuen Land, das uns nicht mehr fremd ist.

Wie sieht Russlands Zukunft aus ? In seiner aktuellen Form wird das Land nicht mehr lange bestehen können.

Nachdem ich bei meiner überstürzten Abreise viel gegrübelt habe, sehe ich die Dinge nun anders. Ich beobachte, was passiert. Ich weiß, dass jeden Tag immer mehr Menschen wie ich Russland wegen des Kriegs, den unser Land verursacht hat, verlassen werden. Wovor fliehen wir alle ? Vor der Rückverwandlung Russland in eine Sowjetunion 2.0. Für alle, für die Freiheit grundlegend ist, ist es unausweichlich, dieses Land zu verlassen.

In den letzten Jahren waren das Internet und die sozialen Netzwerke meine wichtigsten Informationskanäle. Seit zehn Jahren habe ich keinen Fernseher mehr (oder, wie wir sagen „Zombo-box“). In den letzten Jahren habe ich gelernt, die Propagandaquellen und die Blogger des Staates relativ sicher identifizieren zu können. Auf Facebook sind meine Freunde, die in Kiew, Dnipro und Odessa in der Ukraine leben, meine vertrauenswürdigsten Informanten. Ihre Nachrichten reichen mir, um nicht das Mantra vieler Russen zu wiederholen : „Es ist nicht alles so einfach, beide Seiten lügen.“ Nein, für mich ist ganz klar : Es gibt einen Aggressor und ein Opfer. Schuld beim Opfer zu suchen, ist unwürdig. Ich habe jegliche Kommunikation mit denjenigen abgebrochen, die das weiterhin tun. Insgesamt um die 100 Leute, meine alten Freunde.

Wie sieht Russlands Zukunft aus ? In seiner aktuellen Form wird das Land nicht mehr lange bestehen können. Das ist das Einzige, was ich mit Sicherheit sagen kann. Die Föderation Russland wird den gleichen Weg wie alle Imperien gehen, ob Rom, Österreich-Ungarn, Großbritannien und andere. Ich kann nicht vorhersagen, wann und wie schnell diese soziopolitischen Veränderungen eintreten werden. In drei bis sechs Monaten werde ich sicherlich klarer sehen, wenn sich die russische Wirtschaft erst einmal an den Alltag unter Sanktionen angepasst hat (oder auch nicht) und die Bevölkerung massiver auf die Senkung des Lebensstandards reagiert. Dann wird sich vieles geändert haben und ich werde davon erzählen können.

Dieser Artikel wurde mit freundlicher Unterstützung der Schweizer Botschaft in Belgrad und der Heinrich-Böll-Stiftung in Serbien veröffentlicht.