Stimmen aus dem Exil (7/10) | „In Belgrad sind wir gegen den Krieg auf die Strasse gegangen“

Wsewolow ist 23 Jahre alt und Gegner des Regimes von Wladimir Putin. Als der Krieg in der Ukraine ausbrach, machte er sich auf den Weg nach Frankreich zu seiner Mutter. Doch er steckte mehrere Monate in Belgrad fest, dort schloss er sich der Bewegung “Russen, Ukrainer, Belarussen und Serben : Gemeinsam gegen den Krieg“ an.

© CdB / Bruno Tolić

Von Wsewolow | übersetzt von Sarah Hofmeier

Dieser Text ist auch auf Russisch, Französisch und Serbisch verfügbar.


Der Krieg in der Ukraine hat Millionen Menschen ins Exil getrieben. Ukrainer:innen, aber auch Menschen aus Russland und Belarus, die vor dem Moskauer Regime fliehen und in Serbien Zuflucht gefunden haben. Wie blicken sie auf ihre aktuelle Situation ? Wie erleben sie das Exil und ihre vielleicht endgültige Ausreise ? Hier kommen sie zu Wort.

Ich habe begonnen, Jura zu studieren, um ein guter Anwalt zu werden und die Rechte der Bürger in Russland zu schützen. Aber Putin hat die Justiz meines Landes zerstört, indem er ihm treue Richter und Staatsanwälte ernannt hat. Sie verfolgen nun all jene, die sich gegen den Krieg aussprechen. 2017, als ich 18 Jahre alt war, habe ich begonnen, an Demonstrationen teilzunehmen. Ich musste mitansehen, wie unser Traum eines demokratischen und friedlichen Rechtsstaats zerbrach. Stellen Sie sich vor : Sie setzen Tränengas gegen friedliche und unbewaffnete Demonstrierende ein !

Manche müssen für acht Jahre ins Gefängnis, nur weil sie einen Plastikbecher auf einen Polizisten geworfen haben. Sie nennen es “Angriff auf das Leben eines Polizisten“ (Artikel 318 des Strafgesetzbuches). Glauben Sie mir, von solchen Fällen gibt es viele, bei fast jeder unangekündigten Versammlung, also eigentliche einfach, wenn die Menschen einen Fuß auf die Straße setzen. Sie zerschlagen keine Schaufensterscheiben, verbrennen keine Autos, aber die Polizei behandelt sie wie Verbrecher. Im Laufe der vergangenen Jahre habe ich versucht, mich gegen das Regime zu stellen, im Bewusstsein der Risiken, die ich dabei einging. Ich weiß, wie Alexei Nawalny hinter Gittern gelandet ist, denn ich habe keine seiner Versammlungen versäumt. Ich war einer seiner Anhänger.

Ich wuchs in einer Zeit auf, in der das Land sich wirtschaftlich entwickelte. Die 2000-er Jahre haben aus Russland eine Art Konsumparadies gemacht. In diesem Kontext schlossen das Volk und der Staat eine Art Gesellschaftsvertrag : Freiheit gegen Petrodollars. Allerdings verbesserten sich die Lebensqualität und das Wohlergehen der Bürger nicht wirklich. Die Mehrheit lebte weiter in Armut und glaubte den Versprechen Putins und seiner Vasallen blind. Vom KGB bis in die Stadtverwaltung von Sankt Petersburg : Sie haben das Land geplündert und haben sich blitzschnell bereichert.

Zwei Jahre lang erzählte mein Freund Grischa, als wolle er uns warnen, dass Putin einen neuen Triumph brauche und dass er dafür bereit sei, einen Krieg gegen die Ukraine zu beginnen. Seiner Meinung nach war Putin ein Provokateur und bereitete seine eigene und neue Version des Überfalls von Gleiwitz vor. Ich dachte, dass Putin blufft. Vielleicht glaubte ich zu sehr an das Gute im Menschen, um zu erkennen, wie sehr es mit ihm bergab gegangen war und dass er völlig in eine parallele Realität abgedriftet war. Er selbst glaubt daran, und die Menschen in seinem Umfeld ermutigen ihn. Zu diesen Leuten gehört auch der Metropolit Tichon Schewkunow, sein Beichtvater. Er sieht sich als Nachfolger des ehemaligen Patriarchen Kyrill von Moskau. Tichon hat Wahnvorstellungen und glaubt, dass die Apostel auf Schiffen nach Russland kommen werden, und dass es eines Tages ein Heiliges Russland geben wird, für das alle beten und fasten. Tichon war es auch, der die russischen Panzer beim Angriff auf die Ukraine "segnete".

Kurz gesagt : Sie reden den Krieg schön und treiben so junge Russen in den Tod. Der Angriff auf die Ukraine wurde sorgfältig geplant, blieb aber innerhalb von Putins engstem Kreis verborgen. Überraschung !

Ich bin ehrenamtliches Mitglied in einem Verein, der die Nemzow-Gedenkstätte überwacht. Alle Mitglieder bewachen sie abwechselnd. Putins "Rote Garden" und auch die Nationalisten der russischen Befreiungsbewegung attackieren den Ort und seine Besucher regelmäßig. Sie stehlen Blumen und Kerzen, schlagen Aktivisten und zeigen sie dann an oder schütten stinkende Flüssigkeiten über die Gedenkstätte. Ich war Zeuge mehrerer Blumendiebstähle von der Stelle, an der Boris Nemzow getötet wurde. Wir kämpfen nicht nur für das Andenken an den Politiker und dafür, dass sein Name auf den Straßen Russlands verewigt wird, sondern auch ganze einfach um den Erhalt eines Ortes, an dem man ohne Zensur und ohne Angst vor Verhaftung frei sprechen kann. Es ist die letzte Insel der Freiheit inmitten eines riesigen Konzentrationslagers, das ein Sechstel der Erde umfasst. Dort informieren wir die russischen Bürger über alle Errungenschaften Nemzows, seinen Kampf für ein freies Russland und den Frieden in der Ukraine. Er war ein Freund der Ukraine und unterstützte sie 2014. Er organisierte Antikriegsdemos und Friedensversammlungen, er berichtete über die Verbrechen des Putin-Regimes. Dafür wurde er getötet. Niemand zweifelt daran, dass Putin und sein Despot Ramzan Kadyrow, Präsident der Republik Tschetschenien, für dieses abscheuliche Verbrechen verantwortlich sind.

Um die Gedenkstätte zu beschützen, sind wir Ehrenamtliche rund um die Uhr im Dienst, bei Sonne und Regen. Ob starke Regenschauer, brütende Hitze, bittere Kälte und natürlich auch wenn der Wind der Moskwa weht - wir halten Wache ! Wir werden dort sein, bis die Regierung fällt. Das ist unser Mini-Maidan, unser Beitrag für Russland. Wir wollen zeigen, dass wir nicht alle verloren sind. Viele meiner Freunde aus dem Verein weigern sich, Russland trotz der schrecklichen Repressionen zu verlassen. Denn es ist unser Land und wir allein haben die Zukunft in der Hand, nicht die Kriegsverbrecher und die korrupten Beamten, welche die Macht gewaltsam an sich gerissen haben. "Der Inhaber der Souveränität, die einzige Quelle der Macht in der Russischen Föderation, ist ihr multinationales Volk ...". So lautet Artikel 3 unserer Verfassung, gegen die Putin so grob verstoßen hat.

Am 24. Februar wollte ich mich zu Hause bei meinen Großeltern, bei denen ich wohnte, ausruhen. Leider hat sie Putins Propaganda eingelullt. Sie schauen rund um die Uhr Fernsehen und alle regimefreundlichen Talkshows.

An diesem Tag wachte ich zufällig um 8 Uhr auf. Als ich auf meinem Handy las, dass ukrainische Städte bombardiert wurden, zitterten meine Hände. Ich rief meine Mutter in Frankreich an und erzählte ihr, was vor sich ging. Später sah sie das Ganze im französischen Fernsehen. Zu diesem Zeitpunkt wirkten die russischen Machthaber selbstsicher und überzeugt, dass sie Kyiv in drei Tagen einnehmen würden. Ich war entsetzt und sehr traurig, ich fühlte mich schuldig für das, was passierte. Wahrscheinlich, weil ich vor dem 24. Februar nicht genug gegen die Invasion protestieren konnte.

Aber ich habe viele Male Mahnwachen gegen die Annexion der Krim und die Besetzung des Donbass abgehalten. Die Argumente der Putin-Fans ("Wo warst du in den letzten acht Jahren ?") betreffen mich nicht. Ich bin Russe und Moskauer und schäme mich für das grobe Verhalten meiner Landsleute gegenüber den Ukrainern. Das ist eine große Schande für mein Land und ein schlechtes Beispiel für die Menschheit. Ich schäme mich und bin verletzt, dass mein Land dem Faschismus, dem Imperialismus und der Fremdenfeindlichkeit verfallen ist. Nie zuvor in der Geschichte Russlands gab es so niederträchtige und zynische Zeiten wie diese.

Am 25. Februar ging ich in Moskau zur Uni, ich konnte dem Professor nicht zu hören, der Schock hallte in mir wieder und der Inhalt der Vorlesung drang nicht zu mir durch. Am Abend ging ich in die Bibliothek am Turgenjewskaja-Platz. Als ich sie wieder verließ, sah ich eine Anti-Kriegs-Demonstration. Die Menschen schrien "NEIN ZUM KRIEG !". Ich schloss mich ihnen an und wir liefen die Mjasnizkaja-Straße entlang in Richtung des Gebäudes des Föderalen Diensts für Bewachung. Alle Teilnehmer wurden festgenommen.

Am 27. Februar - ich konnte immer noch nicht wahrhaben, was passierte - ging ich zur Nemzow-Brücke. Es war der siebte Jahrestag von Boris Ermordung. Tausende Menschen haben an diesem Tag Blumen für ihn niedergelegt. Manche kamen mit Anti-Kriegs-Plakaten. Sie wurden sofort von der Polizei festgenommen und in einen Transporter mit anderen Unglücklichen gepfercht. Auf der Brücke traf ich meine Freunde Grisha und Galya Kondrukh. Ihre Gesichter waren traurig. Grischa sagte, Putin sei ein Idiot und er werde diesen Krieg verliere. Galya sagte, ihr Mann habe lange geweint. Das Unverständnis, in einem Land zu leben, das von Faschisten beherrscht wird, war in ihren Gesichtern abzulesen. Am Abend telefonierte ich mit meiner Mutter.

Wir beschlossen, dass ich irgendwohin fahren würde, wo ich kein Visum brauchte. Im Februar und März stellte Frankreich russischen Staatsbürgern keine Schengen-Visa aus. Außerdem war es unmöglich einzureisen, wenn man nicht über den Gesundheitspass und einen europäischen Impfnachweis verfügte. Die europäischen Impfstoffe waren von den russischen Behörden verboten worden, sodass die Bevölkerung gezwungen war, sich mit Sputnik impfen zu lassen.

Ich beschloss nach Belgrad zu gehen, der Ort, der Frankreich am nächsten lag. Das war die richtige Entscheidung, denn der Flugbetrieb war nicht eingestellt, man musste nur einen Zwischenstopp in Istanbul machen. Abflug 4. März. Businessclass. 1000 Euro. Das ist mehr als die Hälfte des Gehalts meiner Mutter. Mein Ticket kaufte ich buchstäblich von ihrem letzten Geld.

Es gab Gerüchte und Medienberichte darüber, dass der Sicherheitsrat, die Duma und der Föderationsrat am 4. März eine Notsitzung abhalten würden, um das Kriegsrecht auszurufen. Das hätte ein Ausreiseverbot für Männer und die allgemeine Mobilmachung bedeutet. Ich war außer mir : Ich sollte in den sicheren Tod gezwungen werden, obwohl ich gegen den Krieg bin und die Ukraine unterstütze ?! Schlicht und einfach Völkermord ! Sie hören nicht auf zu sagen, dass wir 26 Millionen Menschen im Zweiten Weltkrieg verloren haben und jetzt wollen sie wieder von vorne anfangen ?! Das ist Wahnsinn !

Am 4. März haben sich die Gerüchte nicht bewahrheitet. Alles war bereit für meine Abreise. Im Flugzeug stieß ich einen Seufzer der Erleichterung aus. Neben mir saß eine junge Frau. Sie war am Vortag festgenommen und zu einer Geldstrafe von 40.000 Rubel verurteilt worden, nur weil sie auf die Straße gegangen war. Sie hatte also Hals über Kopf, ihre Koffer gepackt und ein One-Way-Ticket nach Istanbul gebucht.

Die Nacht am Flughafen von Istanbul verlief ruhig. Ich entspannte mich in den Sesseln der Businessclass-Lounge von Turkish Airlines und ass Salat. Gegen acht Uhr morgens trank ich meine letzte Tasse schwarzen Tee und ging zu den Gates. Der Flug nach Belgrad dauerte zwei Stunden.

Am Morgen des 5. März landete ich in der serbischen Hauptstadt. Mein erster Eindruck von Serbien wurde von den Schildern im Stadtzentrum geprägt. Da stand : "Nis-Gazpromneft, Slava Rusij und Ratko Mladić je srpski herojmir". Mir wurde klar, dass auch die Serben der Propaganda des Kreml zum Opfer gefallen waren. Nachdem ich in mein Hostel eingecheckt hatte, ging ich sofort ins Bett und schlief bis zum Abend.

Mein Aufenthalt in Serbien war für drei Monate geplant. Als Erstes eröffnete ich ein Bankkonto, das ging einfach. Meine Mutter konnte mir problemlos Geld von einer französischen Bank überweisen. Ich sammelte Unterlagen für eine Aufenthaltserlaubnis und im Mai wurde sie mir ausgestellt. Sie ist der Schlüssel für ein französisches Schengen-Visum. Ohne "borawka" werden in Serbien keine Visa für Russen ausgestellt. Für die Visaangelegenheiten fanden wir eine Spezialistin, meine Landsfrau Irina, die in Banja Kowiljaca lebt. Für eine relativ geringe Gebühr (350 Euro) wurde ich als Alleinunternehmer registriert und erhielt meine Aufenthaltsgenehmigung. Im Vergleich zu den Preisen anderer Spezialisten war das günstig. Manche verlangen 2000 Euro pro Person.

Es gibt genügend Russen in dieser Gruppe, denen das Schicksal der Ukraine nicht gleichgültig ist. Es gibt auch einige Serben.

Im Juni machte ich einen Termin aus, um ein Schengen-Visum zu beantragen. Eine echte Herausforderung für meine Mutter und mich, denn die Botschaft verlangte eine Bescheinigung der Stadtverwaltung von mir. Die Ausstellung eines solchen Nachweises dauert etwa einen Monat und das Risiko, abgelehnt zu werden, ist groß. Glücklicherweise gelang es mir dank meines Stiefvaters und der guten Beziehungen zur Stadt, dieses Dokument innerhalb eines Tages zu bekommen. Unmittelbar danach reichte ich eine Kopie der Bescheinigung per E-Mail ein und erhielt sofort eine positive Antwort.

In Belgrad hatte sich in den letzten Monaten die Antikriegsbewegung "Russen, Ukrainer, Belarussen und Serben gemeinsam gegen den Krieg" organisiert. Ich schloss mich ihr an. Wir gingen auf die Straße, marschierten bis zur russischen Botschaft und zum russischen Kulturhaus. Wir luden Journalisten ein, um unsere Unterstützung für die Ukraine zu demonstrieren. Es gibt genügend Russen in dieser Gruppe, denen das Schicksal der Ukraine nicht gleichgültig ist. Es gibt auch einige Serben. Sie teilen Informationen und sagen die Wahrheit über Putin und Russland - anders als die Medien, die von Präsident Vučić, der Serbischen Progressiven Partei und ihren Freunden kontrolliert werden.

Im Mai lebte ich bei Tamara in Batajnica. Ich kannte sie über den Verein zum Schutz der Nemzow-Gedenkstätte. Dort hatte sie auch ihren Ehemann, den Serben Borya, kennengelernt. Dank ihrer Heirat konnte Tamara ohne besondere bürokratische Schwierigkeiten nach Serbien auswandern. Sie waren mir eine große Hilfe, indem sie mich bei ihr zu Hause aufnahm. Vielen Dank, Tamara und Borya !

Nun ist es endlich so weit : Ich werde bei meiner Mutter in Frankreich leben, wo ich mir eine Zukunft aufbauen möchte. Ich bin dort herzlich willkommen. Und ich hoffe, dass ich Erfolg haben werde, denn ich kenne Frankreich gut und habe es schon viele Male besucht.

Dieser Artikel wurde mit freundlicher Unterstützung der Schweizer Botschaft in Belgrad und der Heinrich-Böll-Stiftung in Serbien veröffentlicht.